Ein langes Leben für die europäische Idee
Von Christoph B. Schiltz
15. Mai 2008, 04:00 Uhr
Eine 79-jährige Konservative aus Luxemburg kämpft seit 1952 für die EU - Sie kennt den Wert des Friedens: Zwei ihrer drei Brüder fielen im Zweiten Weltkrieg
Brüssel - Diese Frau könnte eine Großmutter sein, wie sie sich jedes Kind wünscht: Sie hat ein großes Herz, eine weiche Stimme, sie ist großzügig und lacht viel. Aber Astrid Lulling (79), Europaabgeordnete aus Schifflange in Luxemburg, hat keine Enkelkinder, sie war niemals verheiratet, ihr Leben ist die Politik. Seit 55 Jahren ist das so, und es soll noch eine ganze Weile so bleiben. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament will die resolute alte Dame mit 80 Jahren noch einmal antreten. "Mein Traum ist, als Alterspräsidentin im Jahr 2009 das Europäische Parlament zu eröffnen." Damit würde sie den französischen Rechtsradikalen Le Pen als Alterspräsidenten verhindern. Noch wichtiger ist für sie aber, dass sich dann ein Lebenskreis schließen würde. "Als ich 1965 in das Parlament einzog, war ich die Jüngste von allen."
Lulling ist eine Mischung aus Herzlichkeit, Intelligenz, Angriffslust und Kalkül. Sie ist eine harte Arbeiterin, sie pflegt Freundschaften in alle Fraktionen und greift frontal an, wenn ihr etwas nicht passt. "Sie sind ein Arschloch, Herr Generalsekretär", ranzte sie einmal einen verdutzten Chefbeamten an. Damit hat es Lulling weit gebracht. Sie kommt aus einem sehr kleinen Land und hat nach den Spielregeln, die die großen EU-Mitgliedsstaaten zum eigenen Vorteil festgesetzt haben, "nicht einmal das Recht, dritte Vizepräsidentin im Frauenausschuss zu werden". Trotzdem gehört Lulling zu den wenigen Strippenzieherinnen unter den 751 Abgeordneten. Viele Kollegen und EU-Beamte, die heute an Schaltstellen sitzen, kennt sie seit Jahrzehnten - das schafft Vertrauen. Sie weiß, wen sie anrufen muss, um über die Grenzen ihrer konservativen EVP-Fraktion hinaus Mehrheiten zu organisieren. Bis heute hat sie als Vorsitzende der "interparlamentarischen Arbeitsgruppe Wein" alle Vorschläge der EU-Gesetzesbehörde zur Erhöhung der Verbrauchssteuern auf Alkohol blockiert. Sie stemmte sich mit Erfolg gegen neue Gesetze, die Luxemburgs Rechte als Finanz- und Versicherungsmetropole einschränkten. Für ihre Lieblingstierchen, die Bienen, erreichte sie gegen starke Widerstände eine Erhöhung der "Bestäubungsprämie" für Imker von zehn auf 23 Millionen Euro im Jahr. Die dafür entscheidende Rede im Parlament hielt Lulling, Tochter eines Stahlarbeiters und einer Köchin, im weißen Escada-Kleid mit handgemaltem Bienenmuster: "Ich hatte noch niemals so viel Einfluss wie heute, und ich bin stolz darauf, weil ich besonders darum kämpfen musste."
Es war ein langer Kampf. Als Gewerkschaftssekretärin beim "Lëtzebuerger Arbechter-Verband" nahm Lulling 1952 an der ersten Sitzung des Europäischen Parlaments, das damals noch "Gemeinsame Versammlung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl" hieß, teil. 1965 zog die studierte Volkswirtin als Abgeordnete in das EU-Parlament ein: "Es gab damals nicht einmal eine Frauentoilette."
Anders als heute entsandten die Nationalstaaten bis 1979 ausgewählte Abgeordnete aus ihren eigenen Parlamenten für ein paar Tage im Monat nach Luxemburg und Straßburg. "Das waren gestandene Parlamentarier, die wussten, wie man legislative Texte machte. Wir hatten zwar kein Mitspracherecht bei den Entscheidungen der Kommission, aber unsere Stimme wurde sehr ernst genommen."
Ab 1974 arbeitete Lulling dann nur noch als nationale Abgeordnete. 15 Jahre lang fuhr sie jeden Monat mit dem Zug nach Straßburg und beobachtete die Sitzungen ihrer europäischen Kollegen von der Tribüne: "Ich wollte das Wissen und die Kontakte nicht verlieren." 1989 kam Lulling ins EU-Parlament zurück. Statt 143 Teilzeitabgeordneten aus sechs Ländern hatte das Parlament jetzt ein paar Hundert Vollzeitabgeordnete aus zwölf Staaten: "Das war eine ganz andere Welt." Seit 1979 müssen die Abgeordneten um ihre Wiederwahl kämpfen, sie sind im Heimatland weitgehend unbekannt. Lulling sagt: "Die Profilierungssucht ist heute sehr hoch. Es gibt viele Kollegen, die das Parlament mit dem Hyde Park Corner verwechseln, wo man sich auf eine Seifenkiste stellt und irgendeinen Blödsinn verlangt. Sie fürchten, sonst nicht wahrgenommen zu werden. Solide Arbeit machen hier nur rund 150 Abgeordnete, sie halten das Parlament am Laufen." Lulling versteht nicht, warum sich Kollegen mit unzähligen Dringlichkeitsanträgen und Initiativberichten verzetteln. "Die legislative Arbeit muss Vorrang haben."
Trotzdem will die älteste Abgeordnete im EU-Parlament weitermachen. Warum? Lulling glaubt an die europäische Idee. Zwei ihrer drei Brüder sind im Zweiten Weltkrieg gefallen. "Ich weiß, was das bedeutet. Wir streiten uns hier über Dinge, aber das ist doch nicht wichtig. Ein Tag Krieg wäre viel schlimmer als alles, was die EU kostet."
http://www.welt.de/welt_print/article1997197/Ein_langes_Leben_fuer_die_europaeische_Idee.html
Sonntag, 18. Mai 2008
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