Freitag, 26. September 2008

Für ein starkes und bürgernahes Europaparlament

Der Traum von der transnationalen Demokratie
Progressive Erweiterung der Vollmachten / Bewusstsein bei den Bürgern für die Bedeutung der EU-Volksvertretung stärken

Für ein starkes und bürgernahes Europaparlament: Sir Julian Priestley, Astrid Lulling, Simone Veil, Großherzog Henri
und Jean Spautz würdigten Arbeit und Entwicklung der EU-Volksvertretung (v.l.n.r.).

(FOTOS: ANOUK ANTONY)
VON JAKUB ADAMOWICZ - wort.lu

Im Beisein von Großherzog Henri,
der ehemaligen EP-Präsidentin Simone
Veil, Europaminister Nicolas
Schmit sowie zahlreicher EP- und
Kammerabgeordneter fand am Donnerstagabend
eine vom EP-Informationsbüro
Luxemburg organisierte
Veranstaltung aus Anlass des 50-
jährigen Bestehens des Europaparlaments
statt.
Unter den Gästen waren unter
anderem die Europaabgeordneten
Astrid Lulling, Lydie Polfer und
Jean Spautz, die Kammervizepräsidentin
Colette Flesch, die Abgeordneten
Ben Fayot, Robert Negri,
Charles Goerens und Fernand Diederich,
der Richter am Europäischen
Gerichtshof, Jean-
Jacques Kasel, der Präsident des
Gerichts Erster Instanz, Marc Jaeger,
sowie der ehemalige Vizepräsident
des Europaparlaments, Nicolas
Estgen.
„Das Europaparlament hat sich
während seines Bestehens tief
greifend gewandelt“, sagte die EPAbgeordnete
Astrid Lulling in ihrer
Eröffnungsrede. Aus einem in
den Anfangsjahren in gemütlicher
Atmosphäre tagenden „Gentlemen
Club“ sei in der Zwischenzeit
ein geachtetes Gesetzgebungsorgan
geworden, kontrastierte Lulling,
die bereits 1965 EP-Abgeordnete
war.
Der ehemalige Generalsekretär
des Europaparlaments, Sir Julian
Priestley, hob in seiner Rede die
besondere Beziehung zwischen
dem Europaparlament und Luxemburg
hervor. „Mehrere luxemburgische
Staatsmänner – Joseph
Bech, Pierre Werner, Gaston
Thorn, Jacques Santer, Jean-
Claude Juncker – haben für die
Europäische Einigung und für die
Stärkung des Europaparlaments
große Dienste geleistet“, erklärte
der bis 2007 höchstgestellte EPBeamte.
Vier Schlüsseldaten
Priestley nannte vier Gründe, warum
das EP mittlerweile eine
„vollwertige Volksvertretung“ ist:
„Neben der Gesetzgebung drückt
das Europaparlament den Willen
des Wahlvolks aus. Die EU-Exekutive
muss dem Parlament Rechenschaft
abgeben, und es bestimmt
maßgeblich über den EU-Haushalt
mit“.
Diese Vollmachten bekam das
Europaparlament nicht in der
Gründerjahren, sondern erarbeitete
sie sich im Laufe der vergangenen
fünf Jahrzehnte. Priestley
nannte am Donnerstag vier Daten,
die den Machtzuwachs der in
Straßburg, Luxemburg und Brüssel
ansässigen Behörde verdeutlichen:
Im Dezember 1979 lehnte
das EP unter dem Vorsitz von
Präsidentin Simone Veil erstmals
den Haushaltsentwurf der irischen
Ratspräsidentschaft ab. Damit
machte die Volksvertretung
deutlich, dass auch sie die Politik
der Europäischen Gemeinschaften
aktiv gestalten wollte.
Im Juli 2000 verweigerte das
Europaparlament Rat und Kommission
die Zustimmung bei
einem für die Schaffung des Binnenmarktes
zentralen Gesetzesentwurf,
der Übernahme-Richtlinie.
Seitdem hat das Parlament –
unter Druck der öffentlichen Meinung
– auch in den Schlüsseldossiers
Dienstleistungs-Richtlinie
und Zulassung chemischer Stoffe
eigene Akzente gesetzt und somit
erlassenen EU-Gesetzen eine fundamental
andere Ausrichtung gegeben
als von der Kommission
gewünscht.
EP-Wahlkampf gefordert
Im Oktober 2004 setzte das Europaparlament
bei der Anhörung der
neuen EU-Kommission durch,
dass der designierte Kommissionspräsident
José Manuel Barroso
die Zusammensetzung und die
Postenverteilung modifizierte.
Zehn Jahre zuvor wäre eine solche
Kontrolle des Parlaments über die
Kommission noch völlig undenkbar
gewesen, sagte Priestley.
Als im Frühjahr 1995 der damalige
französische Präsident
Jacques Chirac sein Amt antrat,
hatte Paris gleichzeitig die EUPräsidentschaft
inne. Bei der Vorstellung
der Prioritäten des Vorsitzes
in Straßburg erntete Chirac
von den Parlamentariern heftige
Kritik für die Aufnahme von
Atomtests im Mururoa-Atoll.
Doch im Gegensatz zum französischen
Parlament, wo eine Debatte
über die Versuche nicht möglich
war, stellte sich Chirac dem EP
und kanalisierte dadurch eine europaweit
geführte öffentliche Debatte.
„Heute gibt es für das Europaparlament
zwei Herausforderungen:
die Ratifizierung des Reformvertrags
und die Begeisterung der
Wähler für die nächste Europawahl
2009“.
Der „Traum einer transnationalen
Demokratie“ könne nur dann
vollständig umgesetzt werden,
wenn die im EP vertretenen Parteien
einen EU-weit angelegten
Wahlkampf führen würden, um so
die Wähler von der Bedeutung der
Wahlen im Juni zu überzeugen.
„Man kann einen solchen Wahlkampf
durchaus thematisch führen“,
sagte Priestley.
„Weltweit einzigartig“
Charles Barthel, Direktor des Robert-
Schuman-Zentrums für Studien
und Forschung in Luxemburg,
beschrieb in seiner Rede das
Europaparlament als „weltweit
einmaliges Konstrukt“, das im
Laufe seiner fünfzigjährigen Geschichte
erfolgreich das demokratische
Defizit überwunden und
seine Abläufe transparenter gestaltet
habe.
Barthel forderte von Bürgern
und Politikern einen Mentalitätswandel:
„Die Zeiten, in denen
ausschließlich Nationalstaaten
politische Antworten auf die Bedürfnisse
der Bürger liefern können,
gehören der Vergangenheit
an“. Somit seien Politiker gefordert,
die EU-Dimension der politischen
Debatten auf das nationale
Niveau herunterzubrechen. Barthel
gestand ein, dass dieser Wandel
mit großen Anstrengungen
und Herausforderungen verbunden
ist.

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